Hoechste Gefahr – jetzt bitte kommen!
Kathrin Schaper berichtet über das Landesarchiv Lübben und die Sicherung von Archivgut in der Niederlausitz während der NS-Zeit und in den frühen Nachkriegsjahren.
In der Nähe des Lübbener Schlosses zieht ein eindrucksvolles Gebäude von schlichter Schönheit unweigerlich den Blick des interessierten Besuchers auf sich. Bei dieser barocken Dreiflügelanlage handelt sich um das in den Jahren 1717 bis 1722 errichtete Stände- oder Landhaus, die Wirkungsstätte der Stände des ehemaligen Markgraftums Niederlausitz.
Von Anbeginn hatte hier auch das ständische Archiv, gemeinhin als ‚Landesarchiv‘ bezeichnet, seinen Sitz. Es verwahrte das aus der Verwaltungstätigkeit der niederlausitzischen Stände über Jahrhunderte in reicher Fülle entstandene Archivgut. Mit Gründung der DDR im Jahre 1949 wurde aus dem ehemals ständischen Niederlausitzer Landesarchiv das Landesarchiv Lübben als kleinstes staatliches Archiv geschaffen. Es wurde am 1. November 1949 als Zweigarchiv dem neu begründeten Landesarchiv Brandenburg (seit 1952 Brandenburgisches Landeshauptarchiv / BLHA) angeschlossen und blieb mit diesem über viele Jahre eng verbunden. An seine Existenz sei im Zusammenhang mit dem 70jährigen Jubiläum des BLHA an dieser Stelle noch einmal erinnert. Untrennbar mit dem Landesarchiv Lübben sind die Namen zweier Männer verknüpft, die sich maßgeblich um die Sicherung von Archivgut in Lübben und der gesamten Niederlausitz verdient gemacht haben, Martin Stahn (1873-1953) und Rudolf Lehmann (1891-1984). Beide hatten die Archivarbeit zu ihrem eigentlichen Lebenszweck erhoben. Den überzeugenden Beweis dafür liefert die heute im BLHA verwahrte stattliche Anzahl von niederlausitzischen Archivbeständen. Ihre gesicherte Unterbringung, Erschließung und Nutzbarmachung wäre ohne das unentwegte Schaffen und den großen persönlichen Einsatz Stahns und Lehmanns nicht möglich gewesen.
Das Landesarchiv der Niederlausitzer Stände und sein Archivar Martin Stahn
Das Landesarchiv Lübben als Domizil der ständischen Überlieferung hatte seit dem 1815 erfolgten Übergang der Niederlausitz an Preußen auch die Archive ihrer aufgelösten staatlichen Oberbehörden wie der Landvogtei, der Oberamtsregierung und der Landeshauptmannschaft in seinen Magazinen aufgenommen. In archivfachlicher Hinsicht blieb es jedoch die meiste Zeit fernab von jeglicher Betreuung. Daher war es ein Glücksfall, dass der 1873 in Sorau geborene und seit 1903 in ständischen Diensten stehende Martin Stahn in seiner Funktion als Landessekretär seit 1919 die Verwaltung des Landesarchivs ausübte – zunächst ehrenamtlich, seit 1924 in hauptamtlicher Tätigkeit. Er führte in den 1920er Jahren erstmals eine Neuordnung und -verzeichnung des gesamten Bestandes nach archivischen Grundsätzen durch und öffnete ihn somit für die wissenschaftliche und heimatgeschichtliche Forschung.
Sein Tätigkeitsfeld vergrößerte sich in den Folgejahren durch die Aufnahme weiterer Archivbestände, vor allem aus dem nichtstaatlichen Bereich. 1927 bestellte die Historische Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin und 1935 der Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg und die preußische Archivverwaltung Martin Stahn zum Archivpfleger des Lübbener Kreises für die nichtstaatlichen Archive. Daraufhin fanden nach und nach eine Reihe von Deposita, u. a. verschiedene Gutsarchive aus den Kreisen Calau, Lübben, Luckau und Spremberg, Kirchenbücher und Kirchenrechnungen der Deutschen Kirche und der Landkirche (Wendischen Kirche), das Archivgut der Lübbener Schützengilde sowie Unterlagen verschiedener Lübbener Innungen ihren Platz im Landesarchiv. Den größten Zuwachs erbrachte in den Jahren 1930 bis 1935 das Lübbener Stadtarchiv, dem es seit Jahren an einer kontinuierlichen archivfachlichen Betreuung gefehlt hatte. Martin Stahn übernahm auch hier das Amt eines Verwalters und Pflegers. Die Archivarbeit bot Stahn nunmehr für viele weitere Jahre ausreichende Betätigung. Den krönenden Abschluss seiner bisherigen beruflichen Unternehmungen sollte die Herausgabe eines Bestandsinventars bilden, welches 1939 erschien und an dem er schon längere Zeit arbeitete.
In der Zwischenzeit aber hatten sich die politischen Kräfteverhältnisse verschoben. Die Existenz der Niederlausitzer Stände stand auf dem Spielm, nicht überraschend, war doch das Ende der kommunalständischen Verbände in der Provinz Brandenburg schon längst eingeläutet worden. 1881 waren die Auflösung der Neumärkischen und 1900 die Auflösung der Kurmärkischen Kommunalstände erfolgt. Einzig in der Niederlausitz blieben die Stände weiterhin bestehen. Seit jeher an große Eigenständigkeit gewohnt, fühlten sie sich noch immer stark genug, um sich der gegenläufigen Entwicklung entgegenzustellen. Bislang hatte kein Herrschaftswechsel vermocht, ihre althergebrachten Rechte und Privilegien endgültig zu beseitigen. Jedoch stieß das strikte Festhalten an den veralteten Strukturen seit Beginn der Weimarer Republik vor allem bei den linken Parteien zunehmend auf Widerstand. Als Ausdruck dessen prangte auf der Titelseite der Berliner Morgenzeitung vom 31. Dezember 1927 die aus dem sozialdemokratischen Lager an die republikanische preußische Regierung gerichtete Frage: Wann wird mit diesem mittelalterlichen Gerümpel vor den Toren Berlins aufgeräumt werden? (BLHA, Rep. 23C Nr. 302, Bl. 79). Aufgrund des zunehmenden politischen Drucks schien die Auflösung der Stände nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
Martin Stahn, im Ständehaus unmittelbar am Ort des Geschehens, sah dem Untergang seiner langjährigen Tätigkeit entgegen. Er hatte gerade erreicht, dass das Landesarchiv endlich der wissenschaftlichen Forschung Zugang gewähren konnte, da sollte es seine kaum geöffneten Pforten schon wieder schließen? Was würde im Falle der Auflösung der Stände aus ihm und dem Archiv werden? Die preußische Archivverwaltung trat mit dem Vorschlag auf den Plan, das Landesarchiv dem Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem einzuverleiben. Für Stahn ein niederschmetternder Gedanke: […] dann bin ich als Archivverwalter erledigt, denn das Staatsarchiv bedarf meiner nicht und der Staat wird mich freiwillig nicht übernehmen (BLHA, Rep. 16 R. Lehmann II Nr.8). Die Unsicherheit der Verhältnisse lastete für die kommenden Jahre weiter auf Stahn.
Da ist es nicht verwunderlich, dass er einen Vorfall, der sich im Juni 1932 im Archiv ereignete, als weitere Niederlage empfand. Was war geschehen? Woldemar Lippert (1861–1937), Archivar und Historiker sowie ehemaliger Direktor des Sächsischen Hauptstaatsarchivs in Dresden, der gerade im Auftrag der Stände am dritten Band seines Lübbener Urkundenbuches arbeitete (erschienen 1933), hatte festgestellt, dass ein Archivbenutzer in jüngster Zeit bei einer Reihe von Lehnsunterlagen aus dem Bestand der Niederlausitzer Landvogtei handschriftliche Streichungen, Überschreibungen und Einträge vorgenommen hatte. Stahn ging der Sache nach und konnte den betreffenden Benutzer ausfindig machen. Er berichtete sein Ergebnis an Lippert: Bei der Vorlage des landvogteilichen Konsensbuches von 1574-1595 […] finde ich in diesem Band, den Baron Houwald–Neuhaus von Dezember 1931 bis März 1932 benutzt hat, auf Blatt 757 = Brigitten von Stutternheimbs Consens […] einen Eintrag mit Tinte von der Hand des Baron Houwald, nämlich die Einschaltung des Vornamens „Abrahamb“ […] Im Lehnbrief der Gebrüder von Zabeltitz S. 914ff hat H[err] Baron Houwald mit seiner Hand u. Tinte auf der Seite 915 [bei dem Namen Peter von der Seyde] den großen Buchstaben S in Seyde durchschrieben mit H, es ist also jetzt zu lesen: „Heyde“, statt Seyde […]. (BLHA, Rep. 23C Nr. 531) Diese Überschreibungen wiederholten sich in verschiedenen Lehnsbriefen. Im Lehnsbrief des Ernst von Stutterheim (BLHA, Rep. 17A Nr. 445, Bl. 95r) war sogar die Datierung verändert, indem das Wort „fünf“ durchgestrichen und mit „sechs“ überschrieben wurde, also aus der Jahreszahl 1506 das (tatsächlich korrekte) Jahr 1606 gemacht worden.
Das Motiv für Houwalds Tun bleibt völlig im Dunkeln. Wollte er auf besserwisserische Weise die in der landvogteilichen Kanzlei seinerzeit begangenen Fehler korrigieren und seine eigenen Erkenntnisse hervorheben? Dazu hätte es sicher geeignetere Möglichkeiten gegeben. Er war Genealoge des deutschen Adels und spielte eine bedeutende Rolle im Deutschen Herold. Er hatte sich die Darstellung der niederlausitzischen Rittergüter und der Familiengeschichte ihrer Besitzer zum Ziel gesetzt und dafür zahlreiche archivarische Quellen in unterschiedlichen Archiven herangezogen. Er kannte also deren einzigartigen Wert und wusste vor allem auch um den rechtsrelevanten Charakter der Lehnsbriefe. Schließlich basierte seine eigene umfangreiche Materialsammlung maßgeblich auf Exzerpten aus diesen Archivalien.
Martin Stahn war angesichts des respektlosen Umgangs mit dem Archivgut fassungslos und empfand die Übergriffe als Herabsetzung des Archivs und seiner bisherigen Arbeit. Sollte er die Sicherheit der ihm anvertrauten Archivalien nicht mehr gewährleisten können, würde er selbst das beste Argument für eine Übernahme des Archivs nach Berlin-Dahlem liefern. Lippert reagierte sehr verärgert. Sein Brief an den ständischen Landesamtmann Daenicke vom 10. Juni 1932 ließ an Offenheit und deutlichen Worten nichts vermissen. Er versäumte auch nicht, auf den begangenen Rechtsverstoß hinzuweisen, der den Tatbestand der Urkundenfälschung erfülle. Ein weiteres Vorgehen gegen den Betroffenen hielt er in der gegenwärtigen Situation allerdings nicht für sinnvoll. Den preußischen Behörden dürfe nach seiner Auffassung keinesfalls Anlass gegeben werden, […] sich mit landständischen Angelegenheiten zu befassen. Daher solle das Landesarchiv wegen seines ungeklärten Schicksals nicht unnötigerweise von sich reden machen. Die ganze Angelegenheit wurde daher auch nicht weiter verfolgt. Für Stahn war jedoch ein weiterer und letzter Nachweis von Recht- und Schutzlosigkeit des Archivs und des Archivarbeiters […] erbracht. (BLHA, Rep. 23C Nr. 531)
Die Auflösung des kommunalständischen Verbands der Niederlausitz wurde durch einen 1938 eigens zu diesem Zweck durch den Oberpräsidenten eingesetzten Staatskommissar weiter betrieben. Jedoch boten der Beginn des Krieges am 1. September 1939 und sein weiterer Verlauf vorerst keinen Raum, sich mit der Frage der Auflösung der Niederlausitzer Stände und dem Verbleib ihres Archivs abschließend zu befassen. Die Beseitigung der ständischen Körperschaft führte letztendlich das Kriegsende 1945 herbei.
Martin Stahn, mittlerweile im greisen Alter und durch persönliche Schicksalsschläge – sein Sohn fiel 1943 in Russland, seine Frau verstarb aus Gram darüber nur wenige Monate später – schwer niedergebeugt, arbeitete trotz seines 1938 erfolgten Eintritts in den Ruhestand weiterhin im Landesarchiv. Der Geschützdonner der heranrückenden Front war bereits in der Ferne zu vernehmen, als er am 9. April 1945 aus Sicherheitsgründen die ältesten Archivalien, wie Urkunden, Amtsbücher zu Lehnssachen, Lübbener Stadtbücher und -rechnungen, in 27 Kisten verpackte und sie in den Graf-Moltke-Schacht nach Schönebeck an der Elbe auslagern ließ. Zugleich sorgte er dafür, dass die Kirchenbücher der beiden Lübbener Kirchen wie auch die der umliegenden Kirchgemeinden, u. a. von Groß Leuthen, Krausnick, Schlepzig und Wittmannsdorf, mit auf den Transport genommen wurden. Sie verdanken dem umsichtigen Handeln Stahns letztendlich ihre Rettung.
Kurz danach rückte die Rote Armee in die Stadt ein. Nach Ablehnung mehrerer Kapitulationsangebote, begannen am 20. April 1945 die Kämpfe um Lübben, in deren Ergebnis ca. 80 Prozent der gesamten Stadt zerstört wurde, darunter das Rathaus mit allen darin befindlichen Unterlagen. Martin Stahn trug inmitten der brennenden Stadt Sorge um die Sicherheit des Archivs, das er auch des Nachts nicht verließ. Zwar überstand das Ständehaus, als eines der wenigen Gebäude im Stadtzentrum, die Kampfhandlungen relativ unbeschadet, die Verwüstungen der Archivräume waren jedoch groß. Durch die Erschütterungen und zahlreiche Plünderungen waren sie ohne Fenster und somit jedem Zugriff schutzlos preisgegeben. Archivregale waren begehrtes Brennmaterial, dessen sich die im Landhaus einquartierten Familien bedienten. Martin Stahn führte einen verzweifelten Kampf, um wenigstens die Archivbestände zusammenzuhalten. In seinen Tagebüchern aus den Jahren 1945–1948 (BLHA, Rep. 499 Nr. 45) schildert er das Alltagsleben in der zerstörten Stadt, zu dem für ihn neben der täglichen Nahrungsmittelbeschaffung auch die Aufräumarbeiten im Archiv gehörten. Der neue Bürgermeister Schulze nahm Anteil an Stahns Arbeit im Archiv, welches schließlich auch das Lübbener Stadtarchiv beherbergte. Er sorgte dafür, dass Stahn nicht zu Enttrümmerungsarbeiten herangezogen wurde, sondern ausschließlich für die Beseitigung der Kriegsschäden im Landesarchiv zuständig blieb. Außerdem veranlasste er die Lübbener Pappenfabrik zur Lieferung eines größeren Postens an Pappe zum Verdecken der Fenster, um die Archivalien wenigstens notdürftig vor Witterungseinflüssen zu schützen. An eine geregelte Archivtätigkeit war jedoch für Martin Stahn nicht zu denken, da es an grundlegenden Dingen, wie Heizung, Licht und geeignetem Mobiliar, fehlte. Notwendige Ordnungsarbeiten führte er daher in seiner Wohnung durch. Die Bergung und Ordnung der wahllos durcheinandergeworfenen Akten und die Feststellung der bestehenden Verluste an Archivgut nahmen viel Zeit in Anspruch. Die kräftezehrende Arbeit forderte ihren Tribut, Martin Stahn erkrankte schwer und schied 1950 aus dem Landesarchiv aus. Er verstarb 1953.
Das Landesarchiv Lübben unter der Leitung von Rudolf Lehmann
Stahns Verdienst während seiner letzten arbeitsreichen Jahre war es, die Sicherung und den Erhalt des Lübbener Landesarchivs möglich gemacht zu haben. Weiterführende Tätigkeiten blieben seinem Nachfolger, dem Niederlausitzer Landeshistoriker Rudolf Lehmann, vorbehalten, welcher 1949 zum Leiter des nunmehr staatlichen Landesarchivs Lübben bestellt wurde. Geboren am 16. September 1891 in Staßfurt, war er durch familiäre Wurzeln in der Niederlausitz fest verhaftet. Seit 1921 hauptamtlich im Schuldienst tätig, entdeckte er schon frühzeitig seine Liebe zur niederlausitzischen Landesgeschichte, der er sein Leben lang die Treue hielt. Mit der Übernahme der Archivleitung in Lübben erfüllte sich für ihn ein lang gehegter Lebenstraum. Seine vornehmliche Aufgabe bestand darin, das in der gesamten Niederlausitz verstreut umherliegende Archivgut sicherzustellen, in das Landesarchiv Lübben zu verbringen und dort benutzbar zu machen. Dies betraf vor allem die in den verlassenen Guts- und Herrenhäusern befindlichen und durch die Bodenreform bedrohten Archivalien, aber auch die Überlieferung einer Reihe von Städten. Als erste Maßnahme verschickte Lehmann an alle Kreisverwaltungen in seinem Zuständigkeitsbereich ein Rundschreiben mit der Aufforderung, in den Städten und Gemeinden Nachforschungen nach Archivgut anzustellen und ihm Meldung zu erstatten. Die Reaktionen darauf waren unterschiedlich. Manche Gemeinden antworteten überhaupt nicht oder erst nach mehrfachem Nachfragen. Andere teilten ihre Fehlmeldung sehr schnell mit, um das Problem vom Tisch zu haben.
Lehmann war sich bewusst, dass die gelieferten Angaben nicht immer sehr verlässlich waren. Hier konnte lediglich der persönliche Besuch vor Ort Klarheit schaffen. Dabei kamen ihm seine eigenen Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten sowie die langjährigen Kontakte in der gesamten Niederlausitz zugute, die er im Rahmen seiner Forschungstätigkeit geknüpft hatte. Da viele Ortschaften weitab von der Eisenbahn lagen, beantragte er ein Dienstfahrrad, um mit seiner Tätigkeit schneller voranzukommen. Ausgerüstet mit Fahrrad und Rucksack, begann er Anfang 1950 damit, alle Unterlagen, deren er habhaft werden konnte, zusammenzutragen und sie nach Lübben zu schaffen, wo er sie anschließend ordnete und verzeichnete. Bereits nach erster Einschätzung stellte Lehmann fest, dass die Verluste an Archivgut – insbesondere an Urkunden – infolge von Vernichtung, Plünderung und Vernachlässigung beträchtlich waren. Trotzdem gelang es ihm, einen erheblichen Teil der niederlausitzischen Herrschafts- und Gutsarchive sicherzustellen. Bereits nach Ablauf seines ersten Dienstjahres waren die Archive der Standesherrschaften von Sonnewalde, Lübbenau, Straupitz, Lieberose und Groß Leuthen sowie eine Reihe von Gutsarchiven in das Landesarchiv Lübben übernommen worden. 1951 und 1952 fand dort gleichermaßen die noch vorhandene kommunale Überlieferung von Lieberose und Lübbenau Aufnahme.
Am 4. Oktober 1950 konstatierte Lehmann in seinem Tagebuch: Ich fürchte fast, daß nennenswertes Archivgut in der Niederlausitz nicht mehr zu finden sein wird. Von Walther [Stadtarchiv Cottbus] erfuhr ich noch, daß er Einiges von Branitz und Werben (von Schönfeld) habe, dass aber wohl das Meiste von Werben vernichtet sei, unter anderem habe man Akten zum Auffüllen von Gräben benützt! (Gockel, S.96). In den folgenden Jahren machte Lehmann immer wieder noch Bestandssplitter oder einzelne wertvolle Dokumente ausfindig. Erst 1955 konnten die gezielten Maßnahmen zur Archivgutsicherung als abgeschlossen betrachtet werden. Die heute im BLHA verwahrte Bestandsgruppe Rep. 37 (Adlige) Herrschafts-, Guts- und Familienarchive weist in Bezug auf die Niederlausitz, trotz aller Verluste, noch eine reichhaltige Palette von Beständen auf, die sich aufgrund ihrer Quellenvielfalt einer regen Benutzung erfreuen. Rudolf Lehmann hat daran einen entscheidenden Anteil.
Um sich einen Überblick über die Nachkriegsverhältnisse in der Niederlausitz zu verschaffen, unter denen Lehmann seine Maßnahmen zur Archivgutsicherung durchführte, sind vornehmlich die im Bestand Rep. 499 Staatsarchiv Potsdam/Brandenburgisches Landeshauptarchiv überlieferten Akten über die Verwaltung des Landesarchivs Lübben, angefüllt mit Schriftwechsel und ausführlichen Tätigkeitsberichten, heranzuziehen. Eine lebendige Ergänzung dazu bietet Lehmanns eigene Sichtweise auf die Ereignisse in seinen Tagebucheinträgen. Auf die jüngst erschienene und zur Lektüre sehr zu empfehlende Edition seiner Tagebücher der Jahre 1945–1964 sei in diesem Zusammenhang nachdrücklich verwiesen.
Einige Übernahmeaktionen seien hier beispielhaft näher beschrieben. In Lieberose schien der Abriss des stark beschädigten Schlosses unmittelbar bevorzustehen. Das noch darin befindliche Herrschaftsarchiv der Grafen von der Schulenburg musste umgehend sichergestellt werden. Pfarrer Kowalewsky, mit den Archivverhältnissen sowohl der Stadt als auch der Herrschaft Lieberose vertraut, schickte per Telegramm einen Hilferuf an Lehmann, der daraufhin am 9. Mai 1950 zur Sichtung der herrschaftlichen Unterlagen im Schloss nach Lieberose fuhr. Er bereitete deren Überführung nach Lübben vor, die dann im Juni 1950 stattfand. Das nunmehr lieblos in eine Bodenkammer im Lieberoser Rathaus verfrachtete Stadtarchiv (oder vielmehr die Altregistratur) war gleichermaßen bedroht, wie der von Lehmann entsandte Archivar Erwin Seemel bei seinem Besuch am 18. Juli 1950 feststellte. Lehmann leitete auch hier den Abtransport in die Wege. Im Forstamt Lieberose ermittelte er weitere Akten, Karten und auch Urkunden (36 Stück). Forstsekretär Schmidtsdorff wusste zu berichten, dass das Schlossarchiv 1946 restlos ausgeplündert worden sei, lediglich die noch vorhandenen Unterlagen habe er in der Kürze der Zeit retten können. Eine größere Anzahl von Amtsbüchern der Stadt und Herrschaft, Akten sowie zehn Urkunden, wurden nachträglich noch im Pfarrarchiv aufgefunden.
Vom Stadtarchiv Luckau erhielt Lehmann bereits am 6. November 1946 durch den Archivbetreuer und Leiter des Kreisheimatmuseums Luckau, Otto Eichler (1876–1952), die Mitteilung, […] daß das wertvolle Archiv bis auf einen Bruchteil gänzlich vorhanden sei. Der größte Teil sei bei Räumung des Rathauses in die Bürgermeisterei geschafft worden. Der zurückgebliebene Teil, darunter Urkunden bis 1400 hinunter, waren leider dageblieben. Vor 4-5 Monaten warfen die R[ussen?] diese am Schützenteich auf den Müllhaufen. (BLHA, Rep. 499 Nr. 62) Eichler erfuhr am selben Tag durch einen Bürger davon und holte sie aus Schutt und Asche wieder hervor. 1954 wurden insgesamt 465 Luckauer Urkunden ins Landesarchiv Lübben übernommen.
In das Lübbenauer Schloss zog nach Kriegsende ein Kinderheim ein. Das Herrschaftsarchiv war bereits im März 1950 nach Lübben gebracht worden. Weitere, in einer Bodenkammer noch aufbewahrte Unterlagen, mussten schleunigst abtransportiert werden, da der Boden zum Wäschetrocknen diente. Ein Teil der Archivalien, größtenteils Familienunterlagen, befand sich im Schloss Seese, dem Wohnsitz des wegen seiner Beteiligung am Hitler-Attentat vom 20. Juni 1944 im selben Jahr hingerichteten Standesherrn Wilhelm Friedrich Graf zu Lynar. Lehmann führte mit seiner Witwe zähe Verhandlungen wegen der Übergabe städtischer und herrschaftlicher Archivalien, die sich noch in ihrem Besitz befanden. Dabei ging es u. a. um eine Urkunde von 1315 (BLHA, Rep. 37 Lübbenau U 1 B) sowie um das älteste Stadtbuch von Lübbenau mit Einträgen aus der Zeit von 1430 bis 1532 (BLHA, Rep. 8 Lübbenau Nr. 1). Ilse Gräfin zu Lynar schreibt in ihrem Brief vom 25. April 1950 an Lehmann: Nun soll ich das schöne alte Buch hergeben, das ich durch alle Kriegswirren hindurch wie meinen Augapfel gehütet habe! Wäre es in Lübbenau geblieben, würde es längst weg sein. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, daß mir das sehr schmerzlich ist, zumal mein Mann, wie Ihnen ja bekannt sein dürfte, stets bemüht war, die Dinge, die allgemeines Interesse haben, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Handelt es sich hier denn nochmal um eine Enteignung? (BLHA, Rep. 499 Nr. 59) Lehmann äußerte Verständnis für ihre Haltung, berief sich aber auf seinen Auftrag, der in der Bergung und Zusammenführung aller Archivalien bestand.
Die Ereignisse der folgenden Jahre gaben Lehmann Recht in seinem Handeln. 1953 verließ die Gräfin zu Lynar die DDR. Die Sicherstellung der im Schloss Seese noch vorhandenen Unterlagen musste nun sehr rasch von statten gehen. Entsprechende Fahrzeuge ließen sich schwer beschaffen. Lehmann zog daher auch unkonventionelle Transportmöglichkeiten in Betracht und erwog allen Ernstes – für uns heute unvorstellbar –, die Archivalien aus Seese notfalls auch per Spreewaldkahn nach Lübben bringen zu lassen. Ort und Schloss Seese fielen in den 1960er Jahren dem Braunkohletagebau zum Opfer.
Die kriegsbedingte Vernichtung von Archivalien legte den Städten und Kreisen die Verpflichtung auf, das zukünftig entstehende Archivgut durch sichere Unterbringung und gute fachliche Betreuung vor weiteren Verlusten zu schützen. Lehmann ergriff auch hier gezielte Maßnahmen. Regelmäßig suchte er die Stadt- und Kreisverwaltungen der Kreise Cottbus, Lübben, Luckau, Senftenberg und Spremberg auf, um in den Verwaltungen die Registraturverhältnisse zu prüfen, die Einrichtung von Verwaltungsarchiven zu überwachen und den damit beauftragten Mitarbeitern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Einmal jährlich organisierte er einen Lehrgang zur Schulung der Stadtarchivare, bei dem fachliche Probleme erörtert und praktische Unterweisungen durchgeführt wurden. Gleichermaßen gehörte die Einrichtung und Beratung von Wirtschafts- und Betriebsarchiven zu Lehmanns Aufgabenspektrum. Zudem wurde 1954 unter seiner Leitung die wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft für geschichtliche Landeskunde beim Landesarchiv Lübben, in Nachfolge der ehemaligen Niederlausitzer Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde, ins Leben gerufen. Die Erforschung der Geschichte seiner niederlausitzischen Heimat war ihm ein tiefes Bedürfnis und fand ihren Ausdruck in mannigfaltigen Veröffentlichungen. Er schien die Feder im Grunde nie aus der Hand zu legen. Nebenher organisierte er jährlich mindestens eine Archivalienausstellung im Landesarchiv Lübben zu verschiedenen Themenschwerpunkten, die von der geschichtsinteressierten Öffentlichkeit gut angenommen wurden.
Rudolf Lehmanns erfolgreichen Bemühungen um die Sicherung von Archivgut in der Niederlausitz fanden bei seinen Dienstvorgesetzten in der staatlichen Archivverwaltung große Anerkennung. Weniger schätzte man, dass er im Rahmen seiner ausgedehnten Forschungs- und Publikationstätigkeit auch enge Kontakte zu Verlagen in der Bundesrepublik unterhielt. Nach Zunahme des politischen Drucks auf seine Person legte er zum 31. Januar 1958 die Archivleitung des Landesarchivs Lübben nieder. Bei seinem Abschied im Archiv brachte er zum Ausdruck, mit [ihm] ginge gewissermaßen die alte Tradition von den Ständen her über den [ihm] nahestehenden Martin Stahn zu Ende. (Gockel, S. 370)
Wie sehr er damit den Kern traf, zeigte sich einige Monate später. Im September 1958 erhielt er die Gewissheit, dass das BLHA den größten Teil der Lübbener Bestände nach Potsdam überführen wollte. Lehmanns Enttäuschung war grenzenlos. Er sah sich damit seiner weiteren Arbeitsgrundlage gänzlich beraubt. Seinem Tagebuch vertraute er am 30. September 1958 an: Also auch finis! Die Lausitz hat […] wenig Förderung von Brandenburg erfahren. Ich war auch hier der letzte Niederlausitzer, und das, was die Stände schufen, schluckt nun das Potsdamer Archiv. (Gockel, S. 404) Bitter war für ihn, dass als Begründung für die Übernahme der Bestände seine eigenen Argumente herangezogen wurden. Nur wenige Jahre zuvor, am 12. Mai 1950, hatte er an die Gräfin zu Lynar geschrieben: Sie dürfen die Übernahme des Archivs nicht als Beschlagnahme auffassen, sondern als eine Sicherung für die Zukunft (Rep. 499 Nr. 59). Friedrich Beck, der Leiter des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, berief sich in seinem Brief an Lehmann vom 27. Januar 1959 nun ebenfalls darauf, dass eine Zusammenführung der an verschiedenen Standorten (Lübben, Potsdam, Merseburg und im Staatlichen Archivlager Göttingen) lagernden niederlausitzischen Archivalien unter dem Dach des Potsdamer Archivs notwendig und richtig sei: Schließlich darf ich auch an Ihre eigenen Hinweise auf die unselige Zersplitterung der niederlausitzer Quellen verweisen.[…] Dem Nachteil der Entfremdung aus der Landschaft selbst, so Friedrich Beck, steht als ein Vorteil der Beginn einer Zusammenführung Niederlausitzer Archivgutes gegenüber […] (BLHA, Rep. 16 R. Lehmann II Nr. 1). Lehmann teilte in diesem Fall seine Meinung nicht.
Im Herbst 1958 ging der Abtransport vonstatten. Vor Ort verblieben neben dem beachtlichen Lübbener Stadtarchiv nur noch kleinere Deposita. Rudolf Lehmann selbst bereitete ebenfalls seinen Weggang aus der Niederlausitz vor. Er siedelte mit seiner Frau 1964 nach Marburg an der Lahn um. Für die niederlausitzische Landesgeschichtsforschung bleibt er unvergessen. Mit seinem umfangreichen Lebenswerk in Form zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten und vielfältiger Veröffentlichungen, das er bis zu seinem Tod im Jahr 1984 kontinuierlich fortführte, hat er sich gewissermaßen ein Denkmal gesetzt.
Das Landesarchiv Lübben verlor in den Folgejahren seine regionalgeschichtliche Bedeutung. Es wurde in ein Archivdepot der Staatlichen Archivverwaltung umgewandelt und diente hauptsächlich als Lagerungsort für geschlossene Grundakten und Grundbücher einer Reihe von Amtsgerichten der ehemaligen Provinz Brandenburg sowie von kriegsbedingt verlagerten Archivbeständen einiger Hansestädte wie Lübeck, Bremen und Hamburg. Mit Wirkung vom 1. Oktober 1984 wurde das Archivdepot der Staatlichen Archivverwaltung in eine Außenstelle des Staatsarchivs Potsdam umgewandelt. Im Zuge der Einrichtung eines Zentralen Grundbucharchivs beim Brandenburgischen Landeshauptarchiv wurden die geschlossenen Grundakten und Grundbücher 1995 nach Potsdam überführt. Der Archivstandort der Außenstelle Lübben im Ständehaus stand dadurch wieder einmal auf wackeligen Beinen, jedoch führten Verhandlungen mit der Stadt Lübben und dem Landkreis Dahme-Spreewald zum Abschluss einer gemeinsamen Verwaltungsvereinbarung. Erst im Jahre 2010 zog die Außenstelle Lübben mit ihrem Kernbestand, dem Lübbener Stadtarchiv, endgültig aus und fand Aufnahme in Räumen des Lübbener Rathauses. Die Beherbergung der bis ins 14. Jahrhundert zurückreichenden städtischen Überlieferung an diesem Ort war nur eine kurze Episode. Da die erforderliche archivfachliche Betreuung des Bestandes sowohl seitens des Brandenburgischen Landeshauptarchivs als auch seitens der Stadt Lübben (Spreewald) fernerhin nicht mehr gewährleistet werden konnte, trat im Juli 2017 das Lübbener Stadtarchiv seine Reise in das Kreisarchiv des Landkreises Dahme-Spreewald nach Luckau an. Im Rathaus von Lübben schlossen sich hinter den geleerten Magazinräumen die Archivtüren. Die jahrzehntelang bestehende enge Verbindung zwischen dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv und der Stadt Lübben fand somit ihren Abschluss.
Nach wie vor gelangen vereinzelte Archivalien aus der Niederlausitz auf verschiedenartige Weise in das Brandenburgische Landeshauptarchiv. So konnte im August 2018 eine aus dem Herrschaftsarchiv Sonnewalde stammende, bislang nicht bekannte, Urkunde von 1527 (BLHA, Rep. 37 Sonnewalde U 39) aus privater Hand erworben werden. Rudolf Lehmann hätte seine Freude daran gehabt, sich vermutlich in deren Inhalt vertieft und einen neuen Beitrag geschrieben.
Quelle:
https://blha.brandenburg.de/index.php/2020/07/21/hoechste-gefahr-jetzt-bitte-kommen/#more-3641